Somatische Intelligenz

von | 16. Mrz 2015 | Aktuelles & Politik

Was wir Essen wird bei den meisten Menschen vor allem von zwei Dingen beeinflusst. Zum einen ist entscheidend, wie wir in der Kindheit gefüttert wurden. Zum anderen, an was wir glauben, also Ernährungswissenschaft und -philosophien wie Veganismus und Religionen. Betrachtet man das Ganze historisch, dann kann man zusammenfassen, dass wir in uralter Zeit an die Weisheit eines Führers geglaubt haben. Je stärker und intensiver die kulturellen Errungenschaften wurden, desto stärker standen Religionen und deren Ideen im Vordergrund. Heute „glauben“ bzw. vertrauen wir vor allem auf die Wissenschaft, die uns durch angeblich objektives Wissen steuert. Das die wissenschaftsgetriebene Ernährungsideologie durchaus schwierig ist, erzählt uns Uwe Knop im Interview.

Aber was ist denn nun gut für uns? Können wir im Bereich der Ernährung tatsächlich für alle Menschen festlegen, was gut und was schlecht ist? Gibt es einen einzigen Ernährungsstil, der ein gesundes und glückliches Leben garantieren kann und gleichzeitig noch die Welt vor der Umweltkatastrophe bewahren wird?

Die Idee der somatischen Intelligenz ist, dass wir selbst merken was gut und schlecht für uns ist und dadurch in die Lage versetzt werden selbst zu entscheiden. Ist die 5. Tasse Kaffee vielleicht genau richtig für mich oder fühle ich mich vielleicht sogar abgeschlagener? Darf ich einen Teller Nudeln ohne schlechtes Gewissen essen? Fühle ich mich wach, fit, gesund, überfressen, träge, müde oder gar geschwächt nach dem Essen? Schmeckt uns etwas oder nicht, und wie verändert sich der Geschmack dazu währen der Tageszeiten und Lebensphasen? Somatische Intelligenz ist die Kunst, körperliche und geistige Reaktionen zu beobachten und daraus zu schließen, ob etwas gut oder schlecht für uns ist und daraus wiederum Entscheidungen für zukünftiges Essverhalten abzuleiten. Man selbst wertet aus und entscheidet. Ganz ohne Deutsche Gesellschaft für Ernährung und Smartphone App oder Apple Watch.

Stellt Euch nur mal vor, dass jedes Individuum ganz eigene Bedürfnisse hat. Gar nicht schwer zu verstehen! Warum gibt es dann Ernährungsempfehlungen für uns Deutsche bzw. die ganze Menschheit? Und zwar nicht irgendwie als Richtlinie, sondern haarklein aufgeschrieben bis ins Detail: Fünf Mal am Tag Obst essen ist sehr konkret. Mit welchem Gewicht man sich zufrieden zu fühlen hat, wird sehr genau festgelegt, obwohl es mittlerweile schon wieder viele Studien gibt, dass viele Menschen über Normalgewicht gesünder sind.

Aber wie kann man selber feststellen, was einem gut tut? Diese Frage ist durchaus problematisch, denn nicht jeder kann die Zeichen deuten und natürlich spüren wir viele langfristigen Auswirkungen erst deutlich später und Rückschlüsse sind nicht immer ganz einfach herzustellen. Somatische Intelligenz will gelernt sein und noch dazu ist sie störanfällig. Insbesondere Industrieprodukte und viele Restaurants benutzen eine Menge Zusatzstoffe, die diese Intelligenz in die Irre führen, wie das Beispiel Süßstoff zeigt. Süßstoff kann in Mastfutter für Tiere gepackt werden, damit diese mehr essen. Aber wie kann das sein, wenn Süßstoff doch gar keine Kalorien hat? Ganz einfach, wir täuschen dem Körper vor, dass er kalorienreiche Nahrung bekommt. Unsere Geschmacksnerven sagen süß, unsere Verdauung stellt sich auf Süßes ein, dieses kommt dann aber nicht. Unser Körper verlangt geradezu nach Süßem, weil er alles zur Verfügung gestellt hat, um Süßes zu verarbeiten.

 

Folgende Aspekte der somatischen Intelligenz sind interessant:

  • Den Körper zu täuschen mit Süßstoff, Glutamat, raffiniertem Salz oder Aromen, kann bedeuten, dass dieser falsch reagiert. Selber Kochen und bewusst essen ist also eine Grundvoraussetzung. Sport hilft, sich selber besser wahrzunehmen.
  • Eigene Bedürfnisse zu unterdrücken ist schwierig. Vielmehr sollte man mit Aufmerksamkeit verfolgen warum diese Bedürfnisse entstehen und was für Auswirkungen diese haben. Warum habe ich Heißhunger, was bewirkt meine Freßattacke?
  • Sich selbst Achtsamkeit entgegenbringen als Schlüssel zur Erkenntnis im Alltag insgesamt. Was löst bei mir was aus. Beobachtet Euch mehr selbst.
  • Es erfordert Achtsamkeit, die Reizüberflutung der modernen Zeit einzuschränken, damit man sich überhaupt wieder wahrnimmt. Multitasking ist eines der größten Hindernisse für Achtsamkeit. Essen und gleichzeitig am Smartphone spielen zum Beispiel.

Sind also Ernährungsphilosophien und –wissenschaft unnötig? Die somatische Intelligenz ist nur eine Intelligenz. Der heute allseits geschätzte Verstand mit dem rationellen Denken kann uns enorm weiterhelfen, auch in Zukunft eine gute Ernährung für die gesamte Bevölkerung zu ermöglichen. Warum nicht Ideen wie Veganismus einfach Mal ausprobieren und beobachten, wie man selber darauf reagiert? Man sollte dabei nur vorsichtig sein, wenn die Ratio behauptet, Veganismus (fettfreie, kohlenhyratfreie Ernährung, Putenfleisch…) ist auf jeden Fall gut für uns, weil diese und jene Studie dieses und jenes ergeben hat. Die Studien selbst sind nur Beobachtungen von irgendeinem Teilausschnitt der Wirklichkeit. Sie sind nicht objektiv!

Wichtig ist grundsätzlich die Frage, warum esse ich überhaupt? Mit geschärfter Aufmerksamkeit kann man herausfinden, woher der “Jeeper” kommt: Bin ich emotional frustriert, will ich mich belohnen oder habe ich einfach den ganzen Tag noch nichts gegessen und bin deswegen unterzuckert. Dieses Beispiel zeigt auch, dass Erkenntnisse der Wissenschaft nicht schlecht sein müssen. Unser Wissen über Blutzuckerspiegel und wie wir Energie verdauen und verbrennen kann durchaus ein Anstoß sein, sich eben nicht für die Süßigkeiteninfusion zu entscheiden, sondern je nach Bedarf einen Apfel oder ein Vollkornbrot zu essen.

Apropos Äpfel und Vollkornbrot: Es gibt durchaus Menschen, die die natürlichen Abwehrstoffe in der Schale von Getreide, Obst oder Gemüse nicht vertragen. Auch hier sollte es keine dogmatische Betrachtungsweise geben, auch wenn Ballaststoffe und Vollkornprodukte sehr wichtig für die Verdauung sein können. (Siehe auch „Kohlenhydrate und Verdauung“)

Laut Thomas Frankenbach kann auch Sport einen wesentlichen Mehrwert beim Sich-Selbst entdecken einbringen. Meditation und andere Übungen können außerdem einen wesentlichen Beitrag leisten, den Blick auf sich selbst zu schärfen. Natürlich können auch Apps dabei helfen, sich mehr zu bewegen oder anderes Verhalten zu ändern. Andererseits mögen für den einen 3.000 Schritte pro Tag gut sein, für den anderen 30.000; man vergisst mit Apps und Führern schnell wieder, auf sich selbst zu hören.

 

Literatur:

Thomas Frankenbach: Somatische Intelligenz – Hören, was der Körper braucht // Interessant und anregend zu lesen, für alle die detaillierter erfahren möchten, wie somatische Intelligenz funktioniert. Im Buch werden praktische Übungen und Hilfestellungen angeboten. Der Autor führt viele Beispiele auf und macht das Verständnis dafür leichter.

 

Simon Reitmeier: Warum wir mögen was wir essen – Eine Studie zur Sozialisation der Ernährung // Als Fachbuch eher schwierig zu lesen und für die meisten nur in Teilen interessant.